Multi Touch Attribution: Heilsbringer oder heisse Luft?
Immer mehr B2B Agenturen und Marketing-Experten behaupten, Umsatz generieren zu können. Nicht Leads, Umsatz.
Da in B2B Unternehmen traditionell Sales-Teams die Umsatzverantwortung tragen, klingt die Idee von „Revenue Marketing“ oder „Revenue Creation“ erstmal verlockend. Marketing rückt näher ans Geld und produziert nun endlich „echten“ ROI.
Doch wie soll das in der Praxis genau funktionieren?
Revenue Marketing 101
Wie die meisten wichtigen Dinge im Leben beginnt alles mit einer Excel-Tabelle. In dieser Tabelle werden die wichtigsten Umsatz- und Proxy-Metriken gemappet, die gemessen werden sollen.
Hier ein vereinfachtes Beispiel:
- # Qualifizierte Leads/Opportunities
- Umsatzpotenzial der Leads
- # Neukunden
- Deal Win Rate %
- Umsatz in CHF
- Durchschnittlicher Vertragswert
- Kundenakquisekosten (CAC)
Diese Performance-Metriken werden nun mit Attributionsdaten verknüpft. Die Kernfrage lautet: Welche Leads wurden vom Marketing „angeliefert“?
Marketing-Teams beziehen diese Zahlen aus CRM-, Analytics- (z.B. GA4) oder diversen Campaign Manager Tools.
Steht bei einem qualifizierten Lead in der Lead-Quelle im CRM etwa Google Ads, beansprucht Marketing diesen Lead für sich.
Selbiges gilt, wenn ein Nutzer auf der Conversion Seite auf einer Website von sich aus angibt, über Kanal XYZ gekommen zu sein (sog. „self-reportet“).
Und schliesst dieser Lead, der nun vom Sales in einen Deal umgewandelt und in einen Neukunden konvertiert wurde, tatsächlich ab, macht das Revenue-Marketing Team einen Freudentanz - Marketing hat nun offenbar „Revenue“ kreiert.
Das Attributionsdilemma
Natürlich bildet der oben gezeigte Funnel nicht die Realität ab. Und Sales-Teams reagieren erfahrungsgemäss empfindlich darauf, wenn Marketing einen Lead/Deal „für sich beansprucht“.
Smarte Marketer wissen: Customer Journeys im B2B sind komplex und verlaufen nicht linear. Viele Kunden haben zahlreiche Touchpoints mit dem Brand, Marketing und Sales, bevor sie kaufen.
Zudem: Wie geht man damit um, wenn ein Kunde heute kauft, aber der Vertrieb bereits vor 6 Monaten auf einer Messe Kontakt hatte, ein eBook heruntergeladen wurde und ein Sales-Mitarbeiter über die letzten 3 Jahre zig mal (erfolglose) Cold-Calls gemacht hat?
Die Annahme ist, dass all diese Touchpoints einen Wert haben und in der Summe zum Kauf geführt haben (könnten).
Um dieser Daten-Kakophonie Rechnung zu tragen, reicht primitive Last-Touch Attribution somit nicht mehr aus. Der Stürmer hat zwar verwandelt (Conversion), aber die Mannschaft hat schliesslich vorbereitet (Assist). Und dieser Beitrag soll nun quantifiziert werden.
Um der steigenden Komplexität und Vielfalt an Datenquellen Rechnung zu tragen, setzen fortgeschrittene Revenue Marketing Teams deshalb auf Multi Touch Attributionssoftware (MTA). Mit dieser können nun auch einige der Pässe zum Treffer gemessen werden.
MTA als „Single Source of Truth“
Als erstes muss das Datenwirrwarr bereinigt werden. Denn leider stehen unterschiedliche Quellen meist im Widerspruch zueinander.
Ein typisches Beispiel:
- Gemäss Hubspot CRM kamen 15 Leads über Google Ads
- Google Ads selbst misst hingegen 27 Conversions
Was ist nun die Wahrheit?
Somit braucht es eine Single Source of Truth (SST).
Aus diesem Grund werden Website, CRM, Marketing-Automation und Campaign Manager Daten einer Maschine (Datenplattform) gefüttert.
In dieser Engine werden die Daten bereinigt, erweitert, transformiert und modelliert. Sodass die Daten schliesslich in „standardisierter Form“ analysierbar werden.

Revenue Marketing auf Steroiden
Im Kern versprechen Multi Touch Attributionssysteme folgenden Mehrwert:
Vorteil #1: Kein Erbsen-Zählen mehr
Das mühsame, fehleranfällige und zeitaufwändige Sammeln und Reporten von Marketing KPIs aus Tools oder dem Backend fällt weg.
Vorteil #2: Vollständigere Customer Journeys
Standard Analytics-Tools wie GA4 können Purchase Journeys nur sehr limitiert darstellen. MTAs können helfen, das Bild zu vervollständigen und Touchpoints verschiedener Stakeholder mit dem Brand über die Zeit abzubilden:


Vorteil #3: Realistischere Performance-Attribution
MTAs geben die Möglichkeit, die Performance von Werbeanzeigen besser zu verstehen. Dabei wird nicht nur der letzte Berührungspunkt (Conversion/Lead) rapportiert, sondern es werden auch frühere Touchpoints in der Customer Journey berücksichtigt.
Vorteil #4: Verbesserte Budget-Allokation
Mehr und vor allem bessere Daten für Google Ads, LinkedIn Ads & Co. bedeuten in der Regel auch, dass Algorithmen besser lernen und optimieren können.
Dadurch sollten in der Theorie mehr Conversions/tiefere Klickpreise/niedrigerer Cost per Lead möglich sein.
Auch die Allokation des Werbebudgets sollte dadurch leichter fallen.

Vorteil #5: Messen des Umsatzbeitrags von Marketing-Massnahmen
MTAs geben an, wie viel Umsatzbeitrag ein bestimmter Channel generiert. Deshalb liefern MTAs auch einen ganzen Stack an neuen Metriken:
- # beeinflusster Leads
- Beeinflusster Umsatz / Pipeline
- # beeinflusster Deals
etc.
Eine Auswertung könnte z.B. so aussehen:

Probleme von MTAs
Die Verwendung von Multi-Touch-Attribution Tools kann auch Probleme mit sich bringen.
Problem #1: Modelle sind für Laien kaum nachzuvollziehen
Um einem Touchpoint „Credit“ geben zu können, sind mathematische Berechnungen notwendig. Unterschiedliche Tool-Anbieter verwenden für die Attribution unterschiedliche statistische Modelle.
Datengetriebene Attribution nutzt Algorithmen, um Touchpoints je nach ihrem Einfluss auf die Kaufwahrscheinlichkeit zu bewerten. Sie liefert ein differenzierteres Bild der Customer Journey, erfordert aber umfangreiche Daten und analytische Fähigkeiten (Quelle).
Markov-Ketten
Dreamdata nutzt etwa Markov-Ketten für datengetriebene Attributionsmodelle, um den Einfluss einzelner Touchpoints in der Customer Journey zu bewerten (Quelle). Dabei wird ein Graph aus allen historischen Kundenreisen erstellt, um Wahrscheinlichkeiten für Übergänge zwischen Touchpoints zu berechnen.
Der „Removal Effect“ (Entfernungseffekt) misst, wie stark sich die Conversion-Rate ändert, wenn ein bestimmter Touchpoint entfernt wird. Je größer die Auswirkung, desto mehr Attribution erhält dieser Touchpoint.
Das Modell passt sich mit neuen Daten laufend an und kann mit regelbasierten Modellen kombiniert werden. Um Scheinkorrelationen (z. B. Meetings am Ende der Journey) zu vermeiden, lassen sich irrelevante Touchpoints gezielt ausschliessen.
Random-Forest
HockeyStack verwendet Random-Forest-Algorithmen zur datenbasierten Attribution (Quelle). Dabei wird für jede Journey ein Baum-Ensemble erstellt, das die Wahrscheinlichkeit berechnet, mit der bestimmte Touchpoints zu einer Conversion führen. Die Bedeutung eines Touchpoints wird über dessen Feature Importance bestimmt – also wie stark sich die Conversion-Rate verändert, wenn dieser Touchpoint entfernt wird. Je grösser der Einfluss, desto mehr Attribution erhält der Touchpoint.
Das Modell funktioniert mit kleinen wie großen Datenmengen und passt sich dynamisch an neue Daten an.
Problem #2: Fehlannahme der Unabhängigkeit von Touchpoints
Ein zentrales Problem vieler MTA-Modelle ist die Annahme, dass Touchpoints unabhängig voneinander wirken. In Wirklichkeit können sie sich jedoch gegenseitig verstärken oder abschwächen.
Wenn diese Abhängigkeiten ignoriert werden, führt das zu fehlerhaften Attributionen und einer falschen Einschätzung des tatsächlichen Einflusses einzelner Touchpoints. Das kann Marketingentscheidungen erheblich verfälschen.
Problem #3: Korrelation, nicht Kausalität
MTAs können keine inkrementellen Effekte auf den Umsatz abbilden.
MTAs machen Aussagen über KORRELATIONEN, jedoch nicht über Kausalzusammenhänge (X → Y).
Es ist somit nicht möglich zu sagen, dass die Google Ads Kampagne X zur Umsatzsteigerung Y geführt hat. Es lässt sich lediglich ein Zusammenhang feststellen.
Um Kausalzusammenhänge herzustellen, sind andere Methoden notwendig.
Problem #4: Einfluss-Metriken mit Vorsicht zu geniessen
Multi Touch Attributions Software ermöglicht neue Metriken wie z.B. „Influenced Leads“. Influence ist in diesem Fall ein Touchpoint, z.B. eine Impression.
Im unten gezeigten Modell wird ein MQL Value definiert (USD 100).
Waren nun 3/6 Touchpoints von LinkedIn (in gelb), wird 50% des Leads LinkedIn attribuiert.
50% von USD 100 sind USD 50. Dies ist der „Attributed Value“.

An dieser Stelle tun sich mehrere Fragen auf:
- Woher weiss man, wieviel ein MQL „wert“ ist?
- Ist jeder LinkedIn Touchpoint gleich viel wert (Bsp.: Lesen eines Posts vs. über eine Ad scrollen)?
- Ist es wirklich die Summe an Touchpoints, die den Effekt ausmacht (3 Touchpoints sind „besser“ als 1 Berührungspunkt?)
- Was passiert, wenn Touchpoints nicht richtig gemessen werden (Messfehler)?
- Ist ein Touchpoint gleich viel wert, wenn ein Prospect kaufbereit (in market) ist, wie wenn er nicht kaufbereit ist (out of market)?
Bevor Marketers mit MTA-Tools arbeiten, sollten sie sich vertieft mit der Funktions- und Messweise auseinandersetzen.
MTAs sind stark im mechanistischen Denken verwurzelt und es fehlt grundsätzlich an Granularität.
Problem #5: Brand Awareness schwer messbar
Für ein MTA-Tool generiert ein bestimmtes Verhalten einen Touchpoint (= positives Signal). Nur was gemessen werden kann, hat dieser Logik nach einen Wert.
Brand Marketing hilft dabei, systematisch Brand-Assoziationen aufzubauen. Dabei hinterlässt es oft keine sichtbaren Spuren. Denkt man z.B. an Fernsehwerbung, ein Plakat oder Display-Ads, werden diese oft unterbewusst wahrgenommen, bewirken jedoch kein direkt messbares Verhalten (Kauf/Klick/Impression).
Da MTAs den Effekt von langfristigem Brand-Marketing nicht richtig abbilden können, könnten Marketer meinen, dass Brand keine Wirkung hat.
Entsprechend würde Budget aus Awareness Kampagnen abgezogen und in Performance-Kampagnen investiert.
Dies ist ein Fehler, sollten B2B Brands doch etwa 50-60% ihres Marketing-Budgets in Brand Awareness investieren.
Fazit
B2B Marketing kann zweifellos einen Beitrag zum Umsatz leisten – aber nicht so direkt und linear, wie es viele versprechen. Der Ansatz des Revenue Marketings ist ein wichtiger Schritt, um Marketing messbarer und enger mit Geschäftszielen zu verzahnen. Moderne Attributionstools wie Multi-Touch Attribution (MTA) ermöglichen es, den Beitrag einzelner Marketingmassnahmen zum Kaufprozess besser zu verstehen und Entscheidungen datenbasiert zu treffen. Der Fokus liegt dabei mehr auf Demand Capture, also dem Abgrasen kaufbereiter Kunden, die trackbare Verhaltens-Touchpoints hinterlassen.
Man darf sich nicht täuschen lassen: Die Realität von B2B-Kaufentscheidungen ist komplex, die Customer Journey selten eindeutig rekonstruierbar, und viele Touchpoints wirken subtil und langfristig. Attributionen beruhen oft auf Annahmen, Modellen und Korrelationen – nicht auf Kausalität. Sie liefern hilfreiche Hinweise, aber keine absolute Wahrheit.
Darum gilt: Revenue Marketing ist kein Ersatz für ganzheitliche Strategie und Erfahrung, sondern ein ergänzendes Werkzeug. Wer die Grenzen von Attribution versteht, Metriken mit Bedacht interpretiert und dabei sowohl Performance- als auch Markenaufbau im Blick behält, kann aus B2B Marketing tatsächlich Umsatzpotenziale heben – aber eben nicht ohne Kontext, Geduld und kritische Reflexion.
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Autor: Kevin Sturm
Founder & Growth Lead
Liest, schreibt und denkt gerne über fundamentale Wachstumsfragen nach
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